Leseprobe 1
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Ich traue meinen Augen nicht, als ich den Namen des Absenders einer E-Mail lese: Carlo.
Mehr als drei Jahrzehnte habe ich nichts von Carlo gehört. Wir hatten zusammen Medizin studiert, waren Assistenten in zwei benachbarten Kliniken und sehr gute Freunde gewesen.Eines Tages verschwand er plötzlich. Ohne Abschied. Er hatte
sich
von
niemandem verabschiedet, nicht einmal von seiner Freundin.
Und nun erreicht mich aus heiterem Himmel eine E-Mail von ihm. Ich ahne in diesem Moment noch nicht, dass wir uns über zwei Jahre lang schreiben werden. Ich werde nicht nur erfahren, wie es ihm in all diesen Jahren ergangen ist, und
verstehen,
warum er damals Hals über Kopf geflohen ist, sondern mit ihm über ein Thema »sprechen«, das mir am Herzen liegt wie kein anderes.
Vierzig Jahre habe ich als Arzt gearbeitet. In dieser Zeit habe ich viel erlebt: Oft konnte ich helfen, manches Mal war ich machtlos. Viele Patienten haben mein Leben bereichert, einige wurden Freunde.
In diesen vier Jahrzehnten hat die Medizin unglaubliche Fortschritte gemacht. Das Wissen in den Arzt- und Heilberufen hat sich um ein Vielfaches vermehrt. Noch nie konnten wir Krankheiten so gut bekämpfen. Doch dies ist nur die eine Seite.
Die
Entwicklung ist bei Weitem nicht nur positiv.Das Medizinsystem steht unter ungeheurem zeitlichen Druck. Ärzte haben immer weniger Zeit für die Patienten, denn Zeit wird nicht honoriert. Immer mehr Menschen klagen über den Verlust der
Menschlichkeit
im gesamten Gesundheitswesen. Bei all den Fortschritten im Kampf gegen die Krankheit haben wir nämlich jemanden vergessen: den kranken Menschen selbst. Seit einigen Jahren beschäftige ich mich deshalb mit dem Thema:
Wie kann moderne Medizin menschlicher werden?
Denn es steht außer Zweifel: Heilung ist ohne Menschlichkeit kaum möglich. Ich habe mich entschlossen, ein Buch zu schreiben, einen Ratgeber für Patienten und Ärzte. Doch es sollte nicht nur ein Ratgeber sein, ich wollte auch Geschichten
erzählen,
die mein Leben als Arzt widerspiegeln.
Als mich Carlos E-Mail erreichte, war das Konzept meines Buches bereits fertig. Aber der zweijährige Schriftwechsel mit meinem plötzlich wieder aufgetauchten Freund erwies sich als so spannend und mit meinem Anliegen so eng verknüpft, dass
ich
das
Konzept kurzerhand umgestaltete und den Dialog mit meinem Freund zur Grundlage dieses Buches machte. Die Geschichten aus meinem Leben als Arzt sind darin eingebettet.
Carlos Geschichte ist bewegend – und außergewöhnlich: Er ist selbst seit vielen Jahren krank und an den Rollstuhl gefesselt. Er steht damit gewissermaßen auf der »anderen Seite«. Er erlebt das Gesundheitswesen als Patient. Als sehr
kritischer
Patient.
So ist mir Carlo ein guter Berater geworden. Ich bin der Meinung, dass Patienten die besten »Unternehmensberater« der Ärzte sind. Als Fabrikant und Unternehmer, der er mittlerweile ist, denkt Carlo praxisbezogen. Dank seiner Mithilfe sind
zum
Beispiel die Checklisten am Ende jedes Kapitels entstanden. Sie bilden die Brücke von der Theorie zum wirklichen Leben und verhelfen so zum konkreten Handeln.
Aber lesen Sie, wie alles begann:
Carlo: Lieber Walter, mir schickten Verwandte aus Deutschland gerade einen Zeitungsartikel über Dich. Ich habe sofort Deine E-Mail-Adresse ermittelt, habe mich aber anfangs gar nicht getraut, Dir zu schreiben. Immerhin bin
ich
vor
mehr als dreißig Jahren sang- und klanglos einfach aus Deutschland abgehauen, ohne meiner Freundin Anna oder Dir oder meinem Krankenhaus, in dem ich als Assistenzarzt arbeitete, einen Ton zu sagen. Jetzt aber möchte ich doch den Kontakt zur
Heimat
wieder aufnehmen. Ich wohne jetzt in Südamerika, in Ecuador.
Wo steckt Anna? Was macht sie? Wie geht es Dir? Was treibst Du im Augenblick?
Liebe Grüße, Dein Carlo
Walter: Lieber Carlo, es kommt mir vor, als sei alles gestern gewesen. Alle waren betroffen; viele hatten ein schlechtes Gewissen. Ich habe damals zu allem geschwiegen – nur Anna schien zu ahnen, was in mir vorging. Dich
traf
keine Schuld bei den Vorgängen in der Klinik. Das ist immer meine feste Überzeugung gewesen. Es ist mir allerdings ein Rätsel, warum Du geflohen bist. Schließlich warst Du einer der Besten.
Als ich Deine E-Mail las, tauchten Bilder der Vergangenheit auf, Fragen schwirrten durch meinen Kopf. Mir ist, als seien die vielen Jahre auf wenige Wochen zusammengeschrumpft, als wären wir immer noch wach und unruhig, mitfühlend und
angriffslustig; als zögen wir durch die Welt und jagten einem bestimmten Traum hinterher.
Viele unserer Freunde und Bekannten leben nicht mehr. Von all den Abenteuern mit ihnen ist nur die Erinnerung geblieben. Vielleicht leben sie als Schutzengel in den ewigen Bergen und passen gelegentlich auf uns auf. Dass Dich gerade die
Presse
auf
meine Spur gebracht hat, hat mich überrascht. »König Zufall« hat wieder einmal seine Hand im Spiel gehabt.
Du möchtest wissen, was ich jetzt treibe? Nun, ich habe mir viel vorgenommen: Ich schreibe ein Buch über meinen Kampf um mehr Menschlichkeit in der modernen Medizin. Es soll kein wissenschaftliches Werk werden, sondern ein »Wegweiser« für
Patienten und Ärzte.
Während ich diese Mail schreibe, sehe ich Deine leicht zusammengekniffenen Augen, den spöttischen Zug um Deinen Mund und warte auf Deinen Kommentar. Und natürlich habe ich unzählige Fragen an Dich: Warum bist Du damals geflohen? Wie geht
es
Dir
jetzt in Deinem neuen Leben?
Beste Grüße, Dein Walter
Carlo: Bitte entschuldige, dass ich mich fünf Monate nicht gerührt und mich nicht für Deine E-Mail bedankt habe. Ich hatte eine schwere Lungenentzündung und war Ewigkeiten im Krankenhaus. Meine Frau Maria-Carmen konnte Dir
nicht
schreiben. Sie spricht nur Spanisch. Ich rede nicht gerne über meine diversen Krankheiten. Deshalb nur ganz kurz: Mir musste ein Bein amputiert werden, und ich sitze nach einem Schlaganfall im Rollstuhl. Dann bin ich auch noch zuckerkrank.
In
den
USA hatte ich eine Herzoperation nach einem Infarkt. Ich habe also recht ausführlichen Kontakt mit Ärzten und Krankenhäusern gehabt und habe dabei sowohl sehr gute als auch sehr schlimme Erfahrungen mit der Medizin gemacht. Als man mir in
den
USA
nicht mehr helfen konnte, bin ich nach Südamerika zurückgekehrt. Zum Glück war ich als Unternehmer in einem ganz anderen und medizinfernen Bereich erfolgreich, sodass ich mein jetziges Dasein lebenswert fortsetzen kann. Schreib mir doch
bitte
unbedingt etwas von Anna. Sie war ja meine erste große Liebe.
Walter: Was Du mir über Deinen Gesundheitszustand berichtet hast, tut mir leid. Ich kann im Moment nicht genau einschätzen, wie schwerwiegend Deine Probleme sind. Dazu brauche ich mehr Information und müsste Dich
persönlich
sehen.
Vielleicht kann ich Dich zu Beginn des neuen Jahres besuchen. Falls Du vorher Hilfe brauchst, lass es mich wissen. Wenn es im Bereich meiner Möglichkeiten liegt, kannst Du auf mich zählen. Du fragst nach Anna. Deiner Anna. Sie lebt schon
lange
nicht mehr. Sie hat Dich bis zu ihrem Tod nicht vergessen. Obwohl ich ihr auch sehr nahestand, vermochte ich sie nie richtig zu trösten. Das war manchmal bitter. Sie schaute mich einfach nur mit ihrem schwer zu deutenden Blick an. Zu einem
späteren
Zeitpunkt erzähle ich Dir mehr über ihren frühen Tod. Ich bin darüber noch immer sehr traurig.
Warum sprichst Du so bitter über die moderne Medizin? Früher warst Du einmal mit Leib und Seele Arzt…Was ist damals wirklich passiert? Und: Hat es Dir für Dein neues Leben geholfen, viele Tausend Kilometer entfernt zu sein von Deutschland?
Carlo: Vielen Dank für Deine Mail.
Du weißt, dass mir damals vorgeworfen wurde, ich hätte durch einen Behandlungsfehler während einer Operation in der Klinik einen Patienten verloren. Ein Mensch lebte nicht mehr, weil ich versagt hatte. Wir haben beide damals nächtelang
darüber
geredet: Darf das passieren? Wie kann ein Arzt damit leben? Darf er weiter seinen Beruf ausüben?
Du hast mir sehr geholfen. Du hast mich darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Patient ohnehin die nächsten Tage nicht überlebt hätte. Aber ich konnte mich nicht beruhigen. Und da hörte ich zufällig, wie sich einige Kollegen abfällig über
mich
unterhielten. Auch die »Oberen« haben mich mit meinem Problem alleingelassen.
Aber das war nicht der einzige Grund, warum ich Deutschland und meinen Beruf verlassen habe. Ja, die »Gerüchteküche« war letztlich ausschlaggebend:
Ungeheuerlich war die Behauptung, ich hätte meine wissenschaftliche Arbeit manipuliert. Du weißt, dass mich dieser Vorwurf sehr getroffen hat. Ich soll »Ausrutscher« innerhalb meiner Versuche verschwiegen haben, um zu eindeutigen
Ergebnissen
zu
kommen.
Ich konnte es dort einfach nicht mehr aushalten, wo über mich getuschelt wurde und wo man mich anklagend ansah. Warum ich Anna und Dir nichts gesagt habe, weiß ich nicht. Vielleicht hatte ich Angst, Ihr würdet mich nicht verstehen oder
versuchen,
mich zurückzuhalten.
Walter: Vielleicht verstehe ich Dich besser, als Du ahnst. Wobei mit »verstehen« nicht gemeint ist, dass ich die gleiche Entscheidung getroffen hätte. Aber ich kann nachvollziehen, wie Du Dich damals gefühlt hast.
Ich glaube, was ich Dir jetzt berichte, wird für Dich höchst spannend sein. Nur circa ein Jahr nach Deiner plötzlichen Abreise hat sich der Vorwurf gegen Dich in Luft aufgelöst. Es kam nämlich heraus, dass ein anderer Arzt, Dr. .., die
Forschungsergebnisse manipuliert hatte, um einem Kollegen zu schaden. Er hat den Kühlschrank abgestellt,in dem sich auch Deine Proben befanden. Leider fiel der Verdacht auf Dich. Durch das Geständnis von Dr. ... warst Du rehabilitiert. Aber
keiner
konnte es Dir mitteilen. Ich bin froh, dass ich es Dir jetzt schreiben kann.
Carlo: Ich bin sehr erleichtert, dass ich vom Vorwurf, wissenschaftliche Ergebnisse gefälscht zu haben, freigesprochen bin. Wenn es den Kerl, der mir das damals in die Schuhe geschoben hat, noch gibt: Sag ihm bei
Gelegenheit
ordentlich die Meinung! Gracias.
Ich habe zwar damals dem Arztberuf den Rücken gekehrt; ich bin aber sehr gespannt auf Dein Konzept. Schickst Du es mir?
Walter: Wie gewünscht, hier zunächst eine Art Einleitung:
Das Ungleichgewicht könnte nicht größer sein. Während die Medizintechnologie in einem atemberaubenden Tempo revolutionäre Fortschritte macht, klagen immer mehr Kranke über die schwindende Menschlichkeit im gesamten Gesundheitswesen. Dabei
ist
es
kein Geheimnis, dass es nicht die Medizintechnologie allein ist, die die Menschen gesund macht. Auch menschliche Zuwendung ist ein wichtiger Faktor im Heilungsprozess. Beide Komponenten sollten zueinander in richtiger Beziehung stehen.
Wenn wir uns die Situation in den Krankenhäusern und Arztpraxen anhand einer Waage verdeutlichen, so ist die eine Waagschale, sagen wir die rechte, voll beladen.Es handelt sich um die Fortschritte in Forschung, Wissenschaft, Technologie,
Pharmazie... kurz: die »moderne Medizintechnologie«. Dieser Seite haben wir viel zu verdanken. Aber hier steht allein der Kampf gegen die Krankheit im Vordergrund.
Sosehr sich die rechte Waagschale füllt, so wenig findet sich in der linken. Im Kampf gegen die Krankheit wurde jemand vergessen: der kranke Mensch selbst. Während die Technik sich auf die Krankheit konzentrierte, hat das System sich von
den
Patienten entfernt und sie vernachlässigt. Wenn wir ihnen helfen wollen, so müssen wir auch wieder die linke Waagschale beachten. Ihre Gewichte aus medizinischer Sicht heißen: Verständnis, Respekt, Zeit, Kommunikation, Hilfsbereitschaft...
kurz:
Menschlichkeit. Wenn die rechte Waagschale zu schwer wird und es an Menschlichkeit mangelt, kommt es zu Fehlbehandlungen, und es wird der Heilerfolg gefährdet. Aber ist Menschlichkeit in der Medizin noch zeitgemäß? Die Antwort lautet
eindeutig:
Ja!
Sie ist aktueller und unverzichtbarer denn je. Wenn wir den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen, so heilen wir erfolgreicher. Selbst bei strenger ökonomischer Betrachtungsweise kommen wir zu dem Schluss: Wenn wir menschlich handeln,
so
haben
wir am Ende nicht Zeit verloren, sondern gewonnen. Wir haben nicht mehr Geld ausgegeben, sondern Geld gespart. Heilung ist mit Menschlichkeit viel eher möglich.
Carlo: Dein Bild mit der Waage ist ein guter Vergleich. Kann aber ein System, das so aus dem Gleichgewicht geraten ist, überhaupt wieder in Balance gebracht werden?
Walter: Vieles von dem, was Du und ich fordern, gibt es heute durchaus. Einige Beispiele: Stell Dir vor, wie ich durch die Wüste im Tassili reise, bei den Bororo-Indianern in Mato Grosso bin oder in Deutschland zu einem
Hausbesuch
von Freunden gerufen werde und die Menschen an diesen Orten ärztlich behandle.
Natürlich sind das sehr gegensätzliche Situationen. Sie haben aber eines gemeinsam: Hightech ist mehr oder weniger weit entfernt. Mit anderen Worten: Die rechte Waagschale ist in diesen Situationen so gut wie leer. Ein Bororo -Mädchen mit
einer
schweren Verbrennung im Gesicht, die querschnittsgelähmte Tuareg-Frau in der Wüste oder Verdacht auf Herzinfarkt bei Freunden zu Hause in einem Nachbarort von Bonn – da hilft nur eins, nämlich der gesunde medizinische Menschenverstand und
die
Fähigkeit, den Patienten Vertrauen zu geben. Man könnte es auch nennen: sich human zu verhalten.
Die Verquickung von ärztlichem Basiswissen, Erfahrung und dem, was man unter Menschlichkeit versteht, darf in der Gesellschaft nicht verloren gehen. Ich will in meinem Buch – vor allem mithilfe vieler Beispiele und wahrer Begebenheiten –
vor
Augen
führen, dass alles, was wir brauchen, vorhanden ist. Wir müssen es uns nur bewusst machen – und es anwenden!
Carlo: Ich verstehe schon. Aber Du hast meine Frage noch nicht beantwortet: Glaubst Du, dass es möglich ist, dieses System wieder ins Gleichgewicht zu bringen?
Walter: Ich möchte Dir mit einem bekannten Gleichnis antworten:
Eine Frau und ein Mann gingen über den Strand. Sie kamen an eine Stelle, die mit Tausenden Seesternen übersät war. Die Flut hatte sie an Land gespült, sie lebten noch, aber bald würde die Sonne sie unweigerlich töten. Ohne lange
nachzudenken,
hob
die Frau vorsichtig einen Seestern auf und brachte ihn ins Meer. Dann nahm sie den nächsten. Der Mann beobachtete sie eine Weile kritisch und sagte dann: »Du kannst sie unmöglich alle retten, die Zeit ist zu knapp.«
Während die Frau die nächsten Seesterne ins Meer zurückbrachte, antwortete sie: »Diesem kann ich helfen. Und diesem auch …«
Carlo: Noch eine Frage: Für viele Menschen ist Menschlichkeit ein abstrakter Begriff. Wie willst Du aus einer berechtigten Forderung, den Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen, einen Ratgeber machen, der Patienten
und
Ärzten den richtigen Weg dazu weist?
Walter: Damit stellst Du die entscheidende Frage. Lass mich noch einmal betonen, dass es mir um die Balance geht. Menschlichkeit ohne Kompetenz wäre in meinem Beruf gefährlich. Ich betone Menschlichkeit nur deshalb so
stark,
weil
sie derzeit ins Hintertreffen geraten ist. Mir geht es aber immer um die Ausschöpfung der technischen Möglichkeiten in Kombination mit menschlicher, kompetenter Behandlung.
Hier meine Meinung, wie ein Ratgeber zu diesem Thema aussehen kann:
Zunächst einmal ist Menschlichkeit keine Einbahnstraße, sie setzt voraus, dass wir geben und nehmen. Das heißt, es liegt nicht nur allein am Arzt, sondern auch am Patienten. Die vier wichtigsten Fragen, die sich der Patient stellen muss,
sind
folgende:
Bin ich überhaupt beim richtigen Arzt?
Was kann ich von meinem Arzt erwarten?
Welche Faktoren unterstützen meine Genesung?
Was kann ich tun, um meinem Arzt zu helfen, mir zu helfen?
Gerade Kranke sind oft emotional angeschlagen, verunsichert, einsam und haben Angst. Viele fühlen sich sogar minderwertig und ihrem Arzt ausgeliefert. Die medizinische Begriffswelt ist ihnen häufig weitgehend fremd. Darum stellen sich
viele
Patienten diese Fragen nicht, vor allem nicht die ersten beiden.
Ich habe bei meiner Arbeit als Arzt immer wieder gesehen, dass es bestimmte Regeln gibt, an die ich mich halten muss. Mit der Zeit habe ich erkannt, dass sieben von ihnen die entscheidenden sind. Mit ihrer Hilfe – ich nenne sie ganz
bewusst
Wegweiser – können wir Antworten auf die Fragen und Anliegen der Patienten finden. Hier sind sie:
Die sieben konkreten Wegweiser:
1. Hinsehen
2. Fragen und Zuhören
3. Mitfühlen
4. Tasten und Berühren
5. Gespräche
6. Kreativität
7. Vertrauen
Patienten können erwarten, dass ein Arzt versucht, diese sieben Wegweiser zu berücksichtigen. Die Patienten wiederum müssen mit dem Arzt zusammenarbeiten und ihm helfen, ihnen zu helfen.
Carlo: Caramba! Das ist das Ende der Diktatur der modernen Hightech-Medizin. Wir röntgen nicht mehr, sondern tasten und schauen. Statt Medikamenten verordnen wir Gespräche. Vielleicht bist Du meinem indianischen
»Medizinmann«,
mit
dem ich einmal zu tun hatte, näher, als ich dachte.
Walter: Vorsicht! Vielleicht ist es nicht ganz so einfach. Wir müssen uns auf einige Punkte einigen, um Missverständnisse zu vermeiden: Eine gute Anamnese und eine gründliche körperliche Untersuchung reichen aus, um etwa
achtzig
Prozent aller Diagnosen zu stellen. Für den verbleibenden Rest (die komplizierten Fälle, die selten auftretenden Erkrankungen) benötigen wir selbstverständlich die moderne Medizintechnik. Deren Ergebnisse bestimmen dann unser ärztliches
Handeln,
aber nur zum Teil. Unsere Arbeit kann wirkungslos werden, wenn wir ohne Menschlichkeit vorgehen. Wie oft habe ich erlebt, dass eine korrekte Diagnose so unmenschlich übermittelt wurde, dass der Patient seelisch zusammenbrach. Hier wären vor
allem
Mitfühlen und aufbauende Gespräche unverzichtbar gewesen.
Lieber Carlo, da Du mein Projekt so wohlwollend-kritisch begleitest, schicke ich Dir jetzt die sieben Wegweiser, nach und nach. Ich bin sehr gespannt, wie Du ihren Wert beurteilst.
Zunächst eine Geschichte zur Einführung.
Die Arzttasche meines Vaters
Mein Vater stammte aus einer Handwerkerfamilie, in der Präzision, eine Neigung zum Künstlerischen, Pflichterfüllung und Liebe zum Beruf selbstverständlich waren. Er selbst wurde Arzt. Schon früh erkannte er den Wert einer soliden Lehre und
guten
Ausbildung. Als junger dreißigjähriger Arzt übernahm er im Zweiten Weltkrieg ein Feldlazarett. Seine Arzttasche begleitete ihn von Anfang an. Mit ihr geriet er in Gefangenschaft, und er musste sich von ihr trennen. Es blieben ihm nur einige
wenige
Instrumente, Salben und Schmerzmittel, die man ihm aus unerklärlichen Gründen nicht wegnahm. Erfahrungen und Geschichten – sie blieben unversehrt – verstaute er mit der restlichen Habe in einem Leinenbeutel, der nun sein »Medizinbeutel«
war,
stets
an einer breiten Schnur um den Hals gehängt.
Nach dem Krieg legte er sich eine neue Arzttasche zu, die fortan sein »Medizinbeutel« wurde. In meiner Kindheit war diese große schwarze und so unergründliche Arzttasche meines Vaters ein Geheimnis. Sie enthielt Freude und Leid, aber auch
Belehrung und Kritik. Mein Vater entnahm ihr eine bunte Vielfalt von Mitbringseln: Süßigkeiten, kleine Bücher, auch Heftchen, vor allem aber seine Geschichten. Ernste, heitere, belehrende und hintergründige Geschichten, die wir Kinder zum
Teil
erst
als Erwachsene verstanden – unterhaltsam jedoch waren sie alle.
Dieser Tasche entnahm er auch Pillen, Tropfen und besonders die weniger geliebten Spritzen. Die schwarze Arzttasche in der Hand, sagte er bei allen möglichen kleinen und größeren Problemen: »Mal sehen, ob ich dafür nicht etwas in meinem
Medizinbeutel finde!«
Dieser »Medizinbeutel« ist das Erbe meines Vaters an mich. Auch ich habe in diese Tasche, seit er sie mir vermacht hat, alle ärztlichen Instrumente, Medikamente, meine Fachbücher, aber auch meine Erfahrungen und meine Geschichten
hineingepackt.
Die lederne Tasche ist Teil meines Gehirns und meines Herzens. Sie ist untrennbarer Bestandteil meines Arztseins. Seit ich Arzt bin, enthält mein Medizinbeutel Erfolge und Niederlagen im Auf und Ab von Erkrankung und Genesung. Dazu gehören
auch
Wissen und Können samt lebenslangem Lernen, stets in Dankbarkeit den Lehrern und Lehrmeistern, den Schwestern und Kollegen gegenüber. An erster Stelle stehen die Begegnungen mit den Patienten. Leidvolle Erfahrungen,Verluste, Krisen, aber
auch
glückliche Momente. Dieser Erfahrungsschatz ist in vielen Geschichten festgehalten, die ich in meinem Medizinbeutel gehütet habe. Gleichzeitig war dieser Schatz nicht nur Hort, sondern ein steter wissenschaftlicher Mahner, so wie unsere
Lehrer
uns
immer wieder ermahnt haben: »Die Kunst des ärztlichen Gesprächs, verbunden mit Zweifeln und Selbstkritik, wird euch vor vorschnellem Handeln und Entscheiden bewahren.«
Das umfassende Wissen meiner Lehrer, gepaart mit einer großen Allgemeinbildung, war das Zentrum klinischer und wissenschaftlicher Arbeit. Viele wurden Meister ihres Faches genannt. Sie haben sich durch zwei bemerkenswerte Eigenschaften
ausgezeichnet: erstens durch ihre überragende Teamfähigkeit und Teamförderung. Aber noch wichtiger war die zweite, nämlich mit welchem Enthusiasmus sie gelehrt und Erfahrungen uns allen vermittelt haben. Hier kam die »Kunst des Gesprächs«
besonders
zum Tragen. Auch ihre »Medizinbeutel« waren unerschöpflich. Zur Bereicherung von Wissen und Können verpackte ich deren Inhalte in meinen Medizinbeutel. Wie oft habe ich in bedrängten Situationen, in Krisen, aber auch bei feierlichen
Anlässen
diesen
Schatz gehoben und verwertet!
Carlo: Wenn ich richtig sehe, bist Du immer noch Idealist. Dein Postulat der Menschlichkeit, Deine Art, diese sieben Wegweiser zu beachten … all das mag auf Dich zutreffen. Aber eignet sich Dein System für das ganze
Gesundheitswesen? Sieben Wegweiser als Allheilmittel für die entmenschlichte moderne Medizin? Ich bleibe kritisch.
In einer Deiner Mails hast Du angedeutet, dass in Deinem Buch viele Erlebnisse und Geschichten vorkommen werden. Hältst Du Geschichten – so ergreifend sie auch sein mögen – für das geeignete Mittel, um die wichtigsten Fragen von Kranken zu
beantworten?
Walter: Ich bin auch Realist – eben weil ich so viel erlebt habe. Man kann den Wert von Geschichten gar nicht hoch genug ansetzen.
Sie zeigen die Herausforderungen, denen wir bei der Umsetzung von Regeln begegnen. Sie berühren das Herz; dadurch inspirieren und bewegen sie den Betroffenen. Vor allem aber regen sie zum Nachdenken und Handeln an, weil sie unsere
Emotionen
ansprechen. Deshalb ist eine Geschichte, die das Herz eines Menschen erreicht, mehr wert als graue Theorie. Siegfried Lenz zum Beispiel sagt: »Ich brauche die Geschichten, um die Welt zu verstehen.« Wenn ich an meine Ausbildung denke, so
habe
ich
fast alle Theorie vergessen. Wer will es mir verdenken, nach so vielen Jahren. Aber die Geschichten unserer Ausbilder und Chefärzte habe ich noch gut im Gedächtnis. Vielleicht sind Geschichten ja doch der richtige Weg. Für viele Kulturen
stellen
heute noch Geschichten die wichtigste Form dar, Erfahrung weiterzugeben.
Carlo: Jedenfalls freue ich mich jetzt schon darauf, durch sie auch einiges über Dich zu erfahren...
Ich nehme gerne Deinen Vorschlag an und bespreche jedes Kapitel mit Dir. Du kennst meine Skepsis. Ich werde kein Blatt vor den Mund nehmen.
So, und nun schick endlich den ersten Wegweiser!